Te Waimate, 13. März 1845

 

Bella Morton hatte vor Erschöpfung dicke schwarze Ringe unter den Augen. Seit dem späten Nachmittag des elften März suchten immer mehr Einwohner aus Russell Zuflucht in der Mission. Die Lehrerin sorgte gemeinsam mit Ripeka für deren Unterbringung und Verpflegung. Sie waren unermüdlich auf den Beinen. Zwar waren die meisten auf der Hazard nach Auckland gebracht worden, doch es gab auch diejenigen, die auf eine schnelle Rückkehr hofften, oder jene, die sich wegen kranker Familienangehöriger nicht auf den Weg mit dem Schiff gemacht hatten. Die Berichte der verzweifelten Menschen berührten die beiden Frauen zutiefst. Deshalb versuchten sie auch mit aller Macht, Maggy von den Flüchtlingen fernzuhalten. Und das war kein leichtes Unterfangen, denn die junge Frau wollte so gern helfen, seit sie vom Wochenbett aufgestanden war.

  »Dein Kind braucht dich, und du musst dich ausruhen«, hatte Bella Morton ihr wiederholt eingeschärft, doch mit einem Blick zur Tür musste die Lehrerin feststellen, dass es vergeblich gewesen war. Maggy stand da mit einem Flachskorb im Arm und blickte sie flehend an.

  »Die Kleine schläft. Ich würde mich so gern nützlich machen«, bat sie inständig.

  Bella und Ripeka warfen sich einen bekümmerten Blick zu. Bella hob die Schultern und seufzte: »Komm her, Maggy, du kannst das Gemüse putzen.«

  Eifrig machte sich die junge Mutter an die Arbeit. »Habt ihr vielleicht etwas von meinen Eltern gehört?«, fragte sie schließlich. Eine Frage, die Bella befürchtet hatte.

  »Nein, aber wahrscheinlich sind sie auf der Hazard nach Auck-land gebracht worden«, entgegnete die Lehrerin rasch.

  »Und was meint ihr, warum Tiaki noch nicht gekommen ist, um mich zu holen?«

  Wieder warfen sich die beiden Frauen einen verstehenden Blick zu. Dasselbe hatten sie sich nämlich auch schon gefragt, doch bevor Bella Maggy antworten konnte, ertönte von draußen ein entsetzliches Gekreische.

  »Sie kommen, um uns umzubringen!«, schrie eine schrille Stimme. Die drei Frauen ließen ihre Arbeit liegen und eilten nach draußen. Nach allen Seiten stoben die weißen Siedler davon.

  »Was ist los?«, fragte Bella eine davonlaufende Frau.

  »Hone Heke und seine Männer!«, keuchte sie und rannte weiter.

  Bella aber blieb auf der Straße vor ihrem Haus stehen und blickte in die Richtung, aus der die Flüchtenden kamen. Sie wollte ihren Augen nicht trauen, als sie in der Ferne den Häuptling erkannte.

  »Ihr geht ins Haus«, befahl sie, aber Ripeka und Maggy rührten sich nicht von der Stelle.

  Immer näher kam Hone Heke, gefolgt von seinen Männern.

  »Hast du nicht genug angerichtet?«, begrüßte ihn Bella mit scharfer Stimme, als er ihr schließlich gegenüberstand.

  Der Häuptling blieb stehen und musterte die Lehrerin prüfend.

  »Es waren die Rotröcke, die Kororareka in Brand gesteckt haben. Sie haben den Befehl gegeben, die Stadt von ihren Kanonenbooten aus zu beschießen«, erwiderte er ruhig.

  »Aber du musstest ja unbedingt noch einmal den dummen Mast fällen«, gab Bella wütend zurück.

  »Wir kommen in friedlicher Absicht. Gebt unseren Männern ein wenig zu trinken und zu essen. Dann ziehen wir gleich weiter, um unsere Toten in Kaikohe zu beerdigen«, erwiderte der Häuptling schwach.

  »Das werden wir euch nicht verwehren«, entgegnete Bella versöhnlich. Wie ein Sieger sieht er nicht gerade aus, durchfuhr es sie. An Ripeka und Maggy gewandt, rief sie: »Bereitet ein wenig Fleisch und Süßkartoffeln für die Männer vor!«

  Ripeka verschwand daraufhin sofort im Haus, während Maggy sich nicht vom Fleck rührte und den Häuptling nur anstarrte.

  »Kind, nun geh schon!«, forderte Bella sie auf, aber Maggy hörte nicht. Stattdessen baute sie sich vor dem Häuptling auf und fragte mit bebender Stimme: »Ist Tiaki bei euch?«

  Auf Hone Hekes Gesicht fiel ein Schatten. »Natürlich ist er bei uns.«

  »Dann wird er mich sicherlich nachher aufsuchen«, brachte Maggy erleichtert hervor. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. So froh war sie, dass der Mann, den sie zu heiraten gedachte, ihr kleines Mädchen und sie nun endlich in sein Dorf mitnehmen würde.

  »Willst du ihn sehen?«, fragte Hone Heke mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck.

  »Ja«, erwiderte Maggy, während sich der Schmerz wie eine Faust in ihren Magen bohrte. Sie ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.

  »Komm!«, befahl der Häuptling und führte Maggy an der Hand an seinen erschöpften Kriegern vorbei bis ganz nach hinten. Dort blieb er stehen.

  Mit zitternden Knien näherte sich Maggy dem Wagen. Tiaki lag gleich vorn. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken, als sie begriff, dass der tapfere Maori tot war.

  Vorsichtig streckte sie die Hand aus und fuhr Tiaki zärtlich über die wachsweißen Wangen. Dann verließen sie ihre Kräfte, doch Hone Heke fing sie noch rechtzeitig auf.

  »Er ... er wollte mich ... mich in sein Dorf bringen. Er ... er wollte mich heiraten«, stammelte sie. Bella und der Häuptling hakten sie an beiden Seiten unter und führten sie ins Haus.

  »Ich wusste nicht, dass er eine Braut hatte«, bemerkte Hone Heke bedauernd. »Aber du bist auch ohne ihn in unserem Dorf herzlich willkommen. Ruh dich noch ein paar Tage aus, und dann mach dich auf den Weg nach Kaikohe, wenn du möchtest und wenn Bella dich entbehren kann.« Der Häuptling zwinkerte der Lehrerin zu, die unmerklich den Kopf schüttelte, als wolle sie ihm damit sagen, dass sie Maggy niemals freiwillig hergeben werde. In diesem Augenblick trat Ripeka mit dem schreienden Kind auf den Armen ins Zimmer und reichte es Maggy, damit sie es stillen konnte.

  Hone Heke starrte fassungslos auf das hellhäutige, rotblond gelockte Wesen.

  »Bist du seine Amme, oder gehört das Kind etwa dir?«, fragte er ungläubig.

  Maggy rang sich zu einem Lächeln durch. »Es ist mein Kind.«

  »Aber das ist niemals von Tiaki.«

  »Nein, es ist von einem Pakeha, aber Tiaki wusste davon und hätte mich trotzdem geheiratet.« Sie blickte den Häuptling herausfordernd an. »Nun, Hone Heke, bleibt es bei deinem Angebot, dass ich in dein Dorf kommen darf?«

  Der Häuptling schnaubte vor Empörung. »Du glaubst wohl auch, was die Leute reden: dass ich die Pakeha hasse und am liebsten alle umbringen würde, nicht wahr? Aber du irrst dich gewaltig. Mir ging es darum, sie in ihre Schranken zu verweisen. Mehr nicht! Sag mal, wer bist du eigentlich? Ich habe dich nämlich noch nie zuvor hier gesehen.«

  »Ich bin Margaret, die Tochter des Missionars Walter Carrington aus Paihia.«

  »Und die Schwester des tapferen Matui. Makere. Er war bei uns, als wir den Mast fällten.«

  »Das glaube ich nicht. Niemals! Und wo ist er jetzt, wenn er zu deinen Leuten gehört...« Maggy stockte. »Er liegt doch nicht etwa auch auf dem Wagen?«

  »Nein, Makere, er lebte, als wir den Rückzug antraten, und beide Seiten haben ihre im Kampf getöteten Brüder eingesammelt und mitgenommen. Er war nicht dabei.«

  »Aber wo steckt er denn bloß?«

  Hone Heke hob die Schultern. »Das wüsste ich auch gern. Vielleicht ist er auf dem Schiff der Rotröcke. Aber sei beruhigt. Er ist ein zäher Bursche, und er liebt dich. Er wollte mit uns nach Kaikohe ziehen, aber nur unter der Bedingung, dass wir dich auf dem Weg dorthin abholen. Und nun ist er nicht da, aber ich spüre, dass ihm nichts Schlimmes widerfahren ist. Ich hoffe, er holt dich bald ab.«

  Maggy war nicht so optimistisch wie der Häuptling, was das Schicksal ihres Bruders anging. Was sollte ihn davon abhalten, nach Te Waimate zu kommen, wenn nicht... Maggy wollte den Gedanken lieber gar nicht erst zu Ende führen und versuchte, ihre düsteren Ahnungen zu verbergen.

  »Wenn er mich holt, werde ich mit ihm gehen, und wenn er mich in dein Dorf bringt, dann werde ich ihm auch dorthin folgen«, sagte sie zum Abschied betont fröhlich. Der Häuptling ließ sich nicht täuschen. »Makere, bete für ihn«, bat er sie mit ernster Stimme.

  Sofort schossen Maggy Tränen in die Augen, doch sie bemühte sich, nicht zu weinen.

  »Ich brauche ein wenig frische Luft«, erklärte sie, nachdem sich ihr Kind satt getrunken hatte.

  »Sollen wir auf die Kleine aufpassen?«, bot Ripeka ihr an, die keine Gelegenheit versäumte, sich um das Kind zu kümmern.

  »Nein, ich nehme Emily mit...« Emily? Maggy verstummte vor Schreck über ihre eigenen Worte. »Ich weiß ... ich weiß noch nicht, wie sie... ich meine, wie ich sie nennen soll, und da dachte ich ... wegen der Locken«, stammelte Maggy verlegen.

  »Wieso, Emily ist doch ein schöner Name«, beeilte sich Bella mit einem prüfenden Seitenblick auf Ripeka zu sagen. In der Hoffnung, diese werde sich endlich einmal verraten, was den Vater des Kindes anging, doch die Maori verzog keine Miene. Bella ahnte zwar längst, wer Maggy das Unaussprechliche angetan hatte, und hatte auch schon mehrfach versucht, die Wahrheit aus Ripeka herauszubekommen, doch vergeblich. Die Maori schwieg wie ein Grab. Bei der Ahnung, die Bella bezüglich des Kindsvaters hatte, fand sie den Namen Emily für das Baby in Wahrheit allerdings mehr als geschmacklos. Wenn sie allein daran dachte, wie sich diese feine Emily Carrington ihrer schwangeren Ziehtochter entledigt hatte, geriet sie außer sich vor Zorn. Sollte Maggy diesen Namen für ihr Kind ernsthaft in Erwägung ziehen, dann sähe sie sich gezwungen, ihn ihr auszureden.

  »Ich nehme die Kleine mit«, sagte Maggy nun mit fester Stimme und war mit ihrer Tochter auf dem Arm bereits bei der Tür.

  »Aber halt dich von den Flüchtlingen aus Kororareka fern!«, ermahnte Bella sie.

  »Warum denn? Vielleicht wissen sie etwas über den Verbleib meiner Eltern und Matthews«, erwiderte Maggy eine Spur zu trotzig. Sie fühlte sich von Bella durchschaut, denn sie hatte tatsächlich vor, auf direktem Weg zur Schule zu gehen und die Flüchtlinge auszufragen.

  »Es grassiert eine ansteckende Krankheit unter den Leuten. Da kannst du mit deinem Kind nicht hingehen«, ergänzte Ripeka rasch und fing einen bewundernden Blick der Lehrerin auf.

  Maggy stöhnte auf. »Gut, dann mache ich einen Bogen um die Schule und wandere ein wenig in der Gegend herum.«

  Das Kind auf ihrem Arm war jetzt ganz ruhig und blickte mit offenen Augen in die Welt. Es hat die schönsten braunen Augen, die ich jemals gesehen habe, ging es Maggy zärtlich durch den Kopf, doch dann fiel ihr ein, von wem sie diese Augen geerbt hatte: Sie waren das Einzige, was dieses Kind von ihr, der Mutter, mitbekommen hatte. Der Anblick rührte sie. Es verlieh dem hellhäutigen Puppengesicht mit den rotblonden Locken etwas ganz Besonderes. Aber es änderte nichts daran, dass man sie immer für ein Pakeha-Kind halten wird, dachte Maggy beinahe bedauernd. Sie war so intensiv mit ihrem Baby beschäftigt, dass sie die beiden Menschen, die ihr nun entgegenkamen und geradewegs auf sie zuhielten, zunächst gar nicht wahrnahm.

  Erst als der hochgewachsene ältere Mann vor ihr stehen geblieben war und sie wie einen Geist anstarrte, erkannte sie ihn.

  »Vater, du?«, entfuhr es ihr fassungslos.

  »Ich glaubte dich längst in Auckland«, erwiderte Walter ohne das geringste Anzeichen von Wiedersehensfreude. »Was tust du noch hier?«, fügte er vorwurfsvoll hinzu.

  June war angesichts dieser Begrüßung gar nicht wohl in ihrer Haut, doch dann entdeckte sie das Baby auf Maggys Arm und brach in Entzückensrufe aus.

  »Ist das süß! Schau nur, Vater!«

  »Guten Tag, June«, sagte Maggy leise.

  »Ach, Maggy, wie schön, dich zu sehen! Kommst du mit uns nach Auckland? Henry ist schon dort. Er ist auf der Hazard geflüchtet. Ich war auch schon an Bord. Du musst wissen, meine Eltern sind beide bei der Explosion umgekommen, doch dann habe ich mich noch einmal nach Kororareka übersetzen lassen, um nach deinen Eltern zu suchen. Ja, und dann fand ich deinen Vater, wie er deine Mutter zum Friedhof trug ...«

  »Mutter ist tot?«, fragte Maggy ungläubig.

  »Ich glaube nicht, dass du sie noch Mutter nennen solltest, waren es doch deinesgleichen, die sie auf dem Gewissen haben ...«

  »Aber Vater, sie kann doch nichts dafür. Emily war ihre Mutter, ob es dir nun passt oder nicht«, protestierte June energisch, doch Maggy war wie betäubt.

  In diesem Augenblick fing ihr Kind zu schreien an. Da Maggy nicht reagierte, redete June tröstend auf das Baby ein und griff nach der Kleinen. »Du kannst sie mir solange auf den Arm geben, bis du den Schock überwunden hast«, bot sie Maggy ihre Hilfe an. Maggy aber funkelte June zornig an und schrie: »Finger weg von meinem Kind! Nimm deine verdammten Finger weg!« Dann wandte sie sich um und rannte fort.

  June blickte ihr bestürzt hinterher. »Aber ... aber was hat sie denn? Und wieso behauptet sie, dass das ihr Kind ist? Man sieht doch auf den ersten Blick, dass es ein weißes Kind ist - und überhaupt, sie ist doch selbst noch ein Kind. Ob es ein Waisenkind ist? Meinst du, wir könnten herausbekommen, ob es Eltern hat? Wenn nicht, dann würde ich es nämlich gern adoptieren. Verstehst du?«

  »Du möchtest jenes Baby also adoptieren?«, wiederholte Walter in einem Ton, als könne er kaum glauben, was er da hörte.

  »Ja, wundert es dich? Hat Mutter denn nie mit dir darüber gesprochen? Sie wollte mir ein Kind aus einem Waisenheim in Auckland besorgen.«

  »Das hat sie dir so gesagt?«

  »Ja, sie wollte mir helfen, aber nun ist sie nicht mehr da, um ...« June brach ab. Tränen standen ihr in den Augen.

  »Du sollst genau dieses Baby bekommen«, verkündete Walter mit fester Stimme.

  »Aber du weißt ja noch gar nicht, ob es wirklich ein Waisenkind ist. Vielleicht hat es Eltern ...«

  »Es wird bald Eltern haben - dich, meine Liebe, und Henry. Ich kümmere mich darum.«

  »Was macht dich da so sicher?«

  »Geh zurück zur Schule und lass mich das erledigen. Ich bringe dir das Kind heute noch. Ich weiß zufällig, dass die Eltern beide tot sind.«

  Junes Augen glänzten vor Glück. Verschwunden waren alle ihre Bedenken.

  »Du glaubst, du kannst mir das Kind noch heute bringen? Das wäre ja wunderbar.« Übermütig fiel sie ihrem Schwiegervater um den Hals.

  »Ich glaube es nicht nur, ich weiß es«, entgegnete Walter und schlug zu allem entschlossen den Weg zum Haus von Bella Morton ein.

  Maggy hatte sich am ganzen Körper bebend in ihrem Zimmer verkrochen. Das war mehr, als sie verkraften konnte. Den Tod von Tiaki und ihrer Mutter, die Sorge um Matthew, die Begegnung mit einem fremden Mann, der sie hasserfüllt angesehen und den sie einst Vater genannt hatte, und dann Junes fordernder Griff nach ihrem Kind.

  Maggy drückte die Kleine fest an sich, bevor sie sie in das Flachskörbchen zum Schlafen legte. Sie war erleichtert, dass sie allein im Haus war. Ripeka und Bella wurden in der Schule gebraucht.

  Sie erstarrte, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte. »Margaret!« So hatte ihr Vater sie nur genannt, wenn er böse auf sie gewesen war, und das war äußerst selten der Fall gewesen. »Margaret, ich weiß, dass du da bist. Komm her!«

  Mit zitternden Knien verließ sie ihr Zimmer und betrat das Wohnzimmer. Er stand da wie ein Rächer. Sein Blick verhieß nichts Gutes. Schweigend standen sie einander gegenüber. Maggy fröstelte. Nichts an Walter Carrington erinnerte sie noch an ihren geliebten Vater.

  »Hat Mutter dir nichts von meinem Kind erzählt?«, fragte sie schließlich.

  »Ich habe dir gesagt, du sollst sie nicht Mutter nennen«, erwiderte er in schneidend scharfem Ton.

  Maggy wunderte sich, dass ihr angesichts seiner grausamen Worte nicht die Tränen kamen.

  »Hat sie dir nicht erzählt, dass mich ...« Sie unterbrach sich hastig. »Ich habe geschworen, es keiner Menschenseele zu verraten, und nun ist sie tot.« Bei dem Gedanken, dass sie vielleicht sogar schuld daran sein könnte, wurden ihre Augen feucht.

  »Wo ist es?«

  Maggy kämpfte mit den Tränen.

  »Wo ist dein Kind?«

  »In meinem Zimmer.«

  »Hol es her!«

  Maggy zögerte einen Augenblick lang, doch dann tat sie, was er verlangte, aber sie stellte das Flachskörbchen nicht ab, sondern hielt es fest umklammert. Das hinderte Walter nicht daran, die Decke beiseitezuschieben und das schlafende Kind zu betrachten.

  Maggy war vor Schreck wie versteinert, vor allem als sie ihn mit völlig veränderter Stimme »Emily, Emily« hauchen hörte.

  Dann wandte er den Blick wieder Maggy zu. »Du bist nicht meine Tochter. Nicht mehr! Dein Bruder und seine Leute haben sie auf dem Gewissen. Sie haben sie erschossen.«

  »Matthew hat sie erschossen?«, keuchte Maggy entsetzt.

  »Ob er oder ein anderer dieser schwarzen Teufel. Es ist einerlei. Sie haben mir mein Liebstes genommen, und ich werde es mir wiederholen.«

  Dabei heftete er den Blick auf das schlafende Kind. Maggy wurde unheimlich zumute.

  »Emily«, wiederholte er. »Emily. Du gehörst mir. Ich werde dich mir nehmen.«

  Walter Carrington schien wahnsinnig geworden zu sein. Maggy bedauerte es nun zutiefst, dass sie allein mit ihm war.

  »Und zwar von dir, denn du ... du bist an all diesem Unglück schuld«, erklärte er mit heiserer Stimme, während er sie aus irren Augen anfunkelte.

  Maggy bebte am ganzen Körper. Das Körbchen auf ihren Armen schwankte wie ein Boot bei Sturm von einer Seite auf die andere. Ehe sie sich’s versah, hatte Walter es ihr entrissen.

  »Du bist nicht in der Lage, ein Baby zu versorgen«, schnaubte er.

  »Bitte, gib es mir zurück! Es gehört mir«, bat Maggy unter Tränen.

  »Nein, du hast meine geliebte Frau auf dem Gewissen. Das hast du doch eben selbst zugegeben. Du hast den Schwur gebrochen. Wem hast du davon erzählt?«

  Maggy senkte den Blick.

  »Ripeka«, erwiderte sie kaum hörbar.

  »Emilys Tod ist die Strafe des Herrn, aber er hat nicht dich getroffen, sondern sie und mich. Du bist mir etwas schuldig.«

  Maggy hob den Blick. Die Angst hatte sich in Wut verwandelt. »Du kannst mir erzählen, was immer du willst. Der Herr wird es nicht zulassen, dass du mir mein Kind nimmst.« Maggy streckte die Hände aus, um zu bekräftigen, dass er ihr das Körbchen zurückgeben solle, doch er wandte sich brüsk mit dem Baby von ihr ab.

  »Ach ja?«, zischte er, während er sich wieder zu ihr umdrehte. »Da bin ich ganz anderer Meinung. Nicht nur der Herr ist auf unserer Seite, auch die weltlichen Mächte sind es.«

  »Wie ... wie ... wie meinst du das?«, fragte Maggy, starr vor Angst.

  »Wie ich es sage. Das Kind gehört zu uns. Oder muss ich dich daran erinnern, wer sein Vater ist?«

  »Aber Henry weiß doch gar nichts davon!«, schrie Maggy verzweifelt.

  »Noch nicht, aber wenn ich es ihm sage, dass du sein Kind - und dazu noch ein weißes Mädchen - geboren hast, dann wird er es für sich beanspruchen. Und dreimal darfst du raten, wem sie es geben werden - einem Maori-Mädchen, das selbst noch ein Kind ist, oder einem anständigen Mann und der Tochter eines der einflussreichsten Männer der Northlands?«

  Maggy war plötzlich so kalt, dass ihre Zähne unkontrolliert aufeinanderschlugen. »Und wenn ... wenn ich sage, wie es wirklich war?«

  Walter lachte hämisch. »Wer soll dir das denn wohl glauben? Nach dem Gesetz bin ich dein Vater, und ich würde beschwören, dass du dich meinem Sohn angedient hast, dass du ein haltloses Wesen bist...«

  Maggy hielt sich die Ohren zu, doch sie ahnte, dass sie verloren hatte. Sie hatte nur noch eine einzige Chance. Sie musste seine alten Gefühle für sie wachrufen. Er hatte sie doch einmal von ganzem Herzen geliebt. Das konnte doch alles keine pure Einbildung gewesen sein. Vielleicht ließe er dann von diesem irrwitzigen Vorhaben ab.

  Maggy sank vor Walter auf die Knie und flehte ihn an. »Bitte, tu mir das nicht an! Du hast mich doch wie eine eigene Tochter geliebt. Wie oft hast du mir gesagt, dass ich deine einzige Freude bin? Du kennst mich doch wie kein anderer. Du weißt doch, dass ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen. Du hast mich doch einst gerettet, mich das Wort Gottes gelehrt...«

  »Ich weiß nur eines: dass ich damals am Fluss einen unverzeihlichen Fehler begangen habe. Einen Fehler, den ich mit dem Leben meiner Frau bezahlt habe. Und deshalb hole ich mir Emily zurück.«

  Walter wandte sich zum Gehen, doch Maggy klammerte sich an seinen Beinen fest.

  »Bitte nicht!«, flehte sie. »Vater, tu mir das nicht an!«

  Walter stellte das Körbchen mit dem Kind beiseite, befreite sich aus der Umklammerung und befahl ihr aufzustehen, doch Maggy gehorchte ihm nicht.

  Er zögerte, doch dann beugte er sich zu ihr hinunter und strich ihr unbeholfen über das Haar.

  »Ich habe dich sehr geliebt, mein Kind, aber ich könnte dich nicht in meiner Nähe ertragen, ohne daran erinnert zu werden, dass meine geliebte Emily deines Bruders wegen aus dem Haus gerannt ist. Und glaub mir, es ist besser so. Die Kleine wird es gut haben bei June und Henry, und sie werden niemals erfahren, wessen Kind sie wirklich ist. Ich lasse sie im Glauben, sie sei ein Waisenkind. Aber dir soll es ein Trost sein, dass das Mädchen bei seinem Vater lebt und in Wohlstand aufwächst. June wird es abgöttisch lieben wie ihr eigenes Kind. Und du, du bist doch noch so jung. Du wirst einen Mann finden und kannst eine eigene Familie gründen.«

  Walter griff in seine Jackentasche und holte ein Bündel Geld hervor. »Das ist mein Erspartes. Es gehört dir, damit du dir ein neues Leben aufbauen kannst.« Er legte das Geld auf den Tisch und warf Maggy, die auf dem Bauch am Boden lag, das Gesicht von ihm abgewandt, einen hilflosen Blick zu.

  »Du wirst mir eines Tages dankbar sein, dass ich dir diese Last abgenommen habe. Komm, steh auf, lass dich zum Abschied umarmen!«, bat er mit heiserer Stimme. Maggy aber rührte sich nicht mehr.

  Seufzend nahm Walter das Körbchen an sich und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Sag mir wenigstens auf Wiedersehen!«, bettelte er, doch von Maggy kam keine Reaktion. Wenn er in diesem Augenblick geahnt hätte, dass sie in ihrem ganzen Leben nie wieder auch nur ein einziges Wort sprechen würde, wer weiß, vielleicht hätte ihn das von seinem wahnwitzigen Plan abgebracht. Aber so riss er sich von ihrem Anblick los und verließ fluchtartig Bella Mortons Haus.

  Auf der Straße wäre er beinahe mit Ripeka zusammengestoßen, die nur Augen für das Körbchen in seinen Armen hatte. Der Missionar schlug einen Haken und begann zu rennen.

 

 

Der Schwur des Maori-Mädchens
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